Autoren: Anna Knollmann | Anika Peucker

Barkhausenrauschen – dem alternden Stahl ins Gerippe geschaut

Stellen Sie sich einmal eine Stahlbrücke vor. Sie laufen fast täglich darüber. Heute halten Sie in der Mitte inne. Ein Gedanke plagt Sie: Wie kann ich denn stets sicher sein, dass die Brücke beim Überqueren auch hält? Werden solche Stahlkonstruktionen gewartet? Können Ingenieure in Stahl »reinschauen« und dessen Alterung und Verschleiß frühzeitig erkennen? Und wie verhält es sich bei anderen Bauteilen und Gebäuden aus Stahl? Wird deren Qualität geprüft?

Nun unsicher muss man sich auf Deutschlands Brücken und Stahlbauten wahrscheinlich nicht fühlen. Denn aus Mangel an zerstörungsfreien Prüfmöglichkeiten werden viele Bauteile und Bauwerke schon lange bevor sie ihrer Aufgabe nicht mehr nachkommen außer Betrieb genommen. Eine bis dato berechtige Vorsichtsmaßnahme, die leider weder günstig noch umweltfreundlich ist.

Hier kommt das vom Fraunhofer IKTS erforschte Barkhausenrauschen – ein zerstörungsfreies Prüfverfahren – ins Spiel. Mit dem Barkhausenrauschen können Eigenspannungen an Stahlkonstruktionen gemessen werden. Die Prüfer nutzen diese Werte zur Bestimmung der Restlebensdauer. Sie treffen damit Vorhersagen und legen Wartungsintervalle sowohl intelligent als auch ressourcenschonend fest. – Ein schätzenswerter Faktor in Sache Nachhaltigkeit. Denn laut Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI; Stand 09.2018) gibt es allein in Deutschlands Netz der Bundesfernstraßen fast vier Millionen Quadratmeter Brückenfläche aus Stahl und Stahlverbünden. Bezogen auf die Brückenfläche und gemessen an den aktuell geltenden Richtlinien befindet sich eine nennenswerte Menge in einem reparaturbedürftigen Bauwerkszustand (BMVI, Stand 9.2018). Und das betrifft lediglich die Stahl- und Stahlverbundbrücken an Bundesfernstraßen. Eisenbahn- und Fußgängerbrücken sowie andere Gebäude oder Bauwerke aus Stahl sind nicht inbegriffen.

 

Wie erfasst Barkhausenrauschen Eigenspannungen zur Ermittlung der Bauteilermüdung?

Etwa 80 Prozent aller Schäden in Stahlkonstruktionen lassen sich auf Ermüdung zurückführen. Eine Bauteilermüdung umfasst verschiedene Prozesse, die im Werkstoff ablaufen, während er thermisch oder mechanisch beansprucht wird. Die Ermüdung beeinträchtigt die Funktion des Bauteils während seiner Belastung bis zu seinem kompletten Versagen. Deshalb ist es wichtig, Ermüdungsschäden frühzeitig zu diagnostizieren. Unfällen oder umfangreichen Reparaturen kann auf diese Weise vorgebeugt werden.

Der 5P-Barkhausen-Noise-Sensor (5P-BN-Sensor) misst über mehrere Pole zwei Spannungsachsen gleichzeitig. Dadurch können mittels einer einzigen Messung bereits Aussagen über die Orientierung und Amplitude der Spannungsvorzugsrichtung innerhalb eines Bauteilbereichs getroffen werden. – Hier zu sehen am Beispiel einer großflächigen Rohrschweißnaht.
© Fraunhofer IKTS | Jürgen Lösel
Der 5P-Barkhausen-Noise-Sensor (5P-BN-Sensor) misst über mehrere Pole zwei Spannungsachsen gleichzeitig. Dadurch können mittels einer einzigen Messung bereits Aussagen über die Orientierung und Amplitude der Spannungsvorzugsrichtung innerhalb eines Bauteilbereichs getroffen werden. – Hier zu sehen am Beispiel einer großflächigen Rohrschweißnaht.

Mechanische Spannungen sind ein dominanter Faktor bei der Ermüdung von Komponenten und damit verbundenen Funktionseinbußen des Bauteils. Solche Eigenspannungen werden durch äußere Lasten oder innere Verspannungen ausgelöst. Mit bloßem Auge können wir sie nicht sehen. Erkannt werden sie nur durch Untersuchungen des Mikrogefüges des Bauteils oder Bauwerks, was je nach Verfahren sehr aufwendig sein kann. Das Barkhausenrauschen erfasst die Veränderungen im Mikrogefüge und wertete den Spannungszustand aus, ohne langwierige Vorbereitungen an der Messstelle oder Herausschneiden von Materialproben.

Kehren wir zur Stahlbrücke zurück: Zum Messen der Eigenspannung an solchen komplexen Bauwerken wie Brücken brauchen wir ein digitales und kompaktes Prüfsystem. Es muss leicht, tragbar und einfach zu bedienen sein. Außerdem sollten sich die Prüfköpfe, die das Messsignal aufzeichnen, austauschen lassen, sodass der Ingenieur auch in schmalen Ecken und an Flächen verschiedenster Geometrien und Größen messen kann. Ein solches mobiles Gerät basierend auf der Barkhausenrauschmethode gab es bisher nicht, obwohl Barkhausenrauscheffekte schon seit mehr als 100 Jahren bekannt sind. Deshalb planten die Konstrukteure zuletzt die Bauteile sowohl lebensdauersicher als auch materialintensiv. Diese Konstruktionsweise braucht allerdings mehr Platz, Ressourcen und kostet dementsprechend mehr.

Vielfältig einsetzbar: das kompakte, digitale Barkhausenrausch-Messsystem

Vor diesem Hintergrund und auf der Grundlage langjähriger Forschungserfahrung zum Barkhausenrauschen, zu Algorithmen und Sensoren entwickelten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Fraunhofer IKTS gemeinsam mit der SURAGUS GmbH und dresden elektronik (DDE) eine ausgefeilte Messtechnik. Das Pilotmesssystem schließt die Lücken und Begrenzungen, die bisherige Barkhausenrausch-Geräte hinterließen. Neben einem benutzerfreundlicheren Konzept zu Hardware, Software und den Prüfköpfen implementierten die Forscherneue Kalibrieralgorithmen. Die Kalibrierung war in der Vergangenheit eine zentrale Hürde im täglichen Betrieb. Der komplexe Kalibrieraufwand bestimmte maßgeblich mit, warum das Barkhausenrauschen als zerstörungsfreies Prüfverfahren in der Praxis kaum durchdrang und nur eine Nische besetzte. Das kalibrierfreie Pilotmesssystem – möglich durch Autokalibrierung – kann nun eine sichere Handhabbarkeit des Verfahrens unter Baustellenbedingungen sicherstellen. Die einstigen erheblichen Ungenauigkeiten und hohen Betriebskosten, die viele potenzielle Anwender entmutigten, sind passé. Damit liefern die Messergebnisse den Betreibern und Behörden eine fundierte Entscheidungsgrundlage, anhand dessen sie die Restlebensdauer beziehungsweise die Sanierung planen können. Die nächsten Schritte können kontrolliert eingeleitet werden. Instandhaltungsmaßnahmen werden weder verfrüht noch zu spät begonnen.

 

Der Barkhausen-Noise-Analyzer – eine Entscheidung für Wirtschaftlichkeit

Der Barkhausen-Noise-Analyzer mit 5Pol- und Current-Barkhausen-Noise-Sensor (5P-BN, C-BN). Der gemeinsam mit der Firma SURAGUS entwickelte portable Barkhausen-Noise-Analyzer dient als Prüfgerät, über das die Messung und Auswertung erfolgt. Der Barkhausen-Noise-Analyzer kann sowohl mit den konventionellen Sensoren (2P-BN) als auch mit den neu entwickelten Sensortypen »5P-BN« und »C-BN« Messungen durchführen und auswerten. Er eignet sich für die zerstörungsfreie Materialcharakterisierung von ferromagnetischen Werkstoffen.
© SURAGUS GmbH | Fraunhofer IKTS | Jürgen Lösel
Der Barkhausen-Noise-Analyzer mit 5Pol- und Current-Barkhausen-Noise-Sensor (5P-BN, C-BN). Der gemeinsam mit der Firma SURAGUS entwickelte portable Barkhausen-Noise-Analyzer dient als Prüfgerät, über das die Messung und Auswertung erfolgt. Der Barkhausen-Noise-Analyzer kann sowohl mit den konventionellen Sensoren (2P-BN) als auch mit den neu entwickelten Sensortypen »5P-BN« und »C-BN« Messungen durchführen und auswerten. Er eignet sich für die zerstörungsfreie Materialcharakterisierung von ferromagnetischen Werkstoffen.
Der Current Barkhausen-Noise-Sensor (C-BN-Sensor) eignet sich durch seinen spitzen Prüfkopf und kleinen Messfleck besonders für Messungen innerhalb gewickelter oder abgerundeter kleiner Bauteilbereiche, die mit konventionellen BN-Sensoren schwer erreichbar sind. – Hier gezeigt in den Schweißnahtbereichen einer Wärmetauscherwand.
© Fraunhofer IKTS | Jürgen Lösel
Der Current Barkhausen-Noise-Sensor (C-BN-Sensor) eignet sich durch seinen spitzen Prüfkopf und kleinen Messfleck besonders für Messungen innerhalb gewickelter oder abgerundeter kleiner Bauteilbereiche, die mit konventionellen BN-Sensoren schwer erreichbar sind. – Hier gezeigt in den Schweißnahtbereichen einer Wärmetauscherwand.

Sowohl Unternehmen aus der Energie- und Mobilitätsbranche als auch Firmen aus den Bereichen Umwelt, Rohstoffe, Mikro- und Nanoelektronik oder den fortgeschrittenen Produktionstechnologien und neuen Materialien können von der reaktiven Instandhaltung industrieller Bauwerke und Anlagen profitieren. Sie optimieren ihre Kosten für die Qualitätssicherung von Fertigungsprozesse, reduzieren ihre Ausschussraten und halten noch tragfähige Konstruktionen wirtschaftlicher instand.

Als Benutzer von Bauwerken wie Brücken oder als Verbraucher von Produkten, die auf Anlagen aus Stahl und Stahllegierungen produziert wurden, weckt es in mir mehr Hoffnung und Vertrauen, wenn ich weiß, dass solche Technologien existieren und ihren Weg in den Markt finden werden. Hoffnung deshalb, weil es eine Möglichkeit gibt, Ressourcen bedarfsgerecht einzusetzen. Und Vertrauen darin, dass Qualität und Sicherheit im möglichen Maß gegeben sein werden. In diesem Gedanken fahre ich entspannt über deutsche Brücken. Wie ist das bei Ihnen?